Von null Ahnung zu etwas Komplexität – ein Vortrag von Vera F. Birkenbihl
Dass ein Vortrag oder eine Geschichte Tiefe und Wert hat zeigt sich daran, dass man bei jedem Hören immer wieder Neues entdeckt und Beziehungen zu seinem bisherigen Wissen findet – so behauptet es Vera Birkenbihl in einigen ihrer Vorträge. Mit ihrer Vorlesung zur Komplexitätsforschung liefert sie zugleich das beste Beispiel als auch die Erklärung dafür.
Ihr Fokus auf das absolut Wesentliche entspricht dem Konzept der „Exformation“, der Tiefe einer Nachricht. Alle Information, die nicht unbedingt zum Verständnis notwendig ist, lässt sie weg, so wie ein Bildhauer allen unnötigen Marmor von einer Skulptur entfernt und so das Wesentliche freilegt. Die Freiräume ergänzen wir Zuhörer mit dem Wissen, das uns individuell zur Verfügung steht. Und grade dadurch ergeben sich die spannendsten Verknüpfungen. Man kann die Inhalte des Vortrags immer wieder neu weiterdenken.
Kürzlich habe ich den Vortrag beispielsweise empfohlen, um Zeitmanagement wirklich zu verstehen. Zeitmanagement brauchen wir nur dann, wenn uns unser Leben chaotisch erscheint. In dieser Situation benutzen wir Methoden, um Aspekte unseres Lebens zu bündeln, zu priorisieren – kurz – sie durch Ordnung zu vereinfachen. Wenn wir das jedoch derart rigide tun, dass unser Leben nicht mehr komplex, sondern vollkommen geordnet ist, dann wird es furchtbar langweilig. Komplexität bedeutet Lebendigkeit, Komplexität ist interessant.
Mit dem Konzept der Exformation kann man auch wunderbar beschreiben, was das Problem mit Emails ist: die meisten enthalten reine Information, aber nichts Wesentliches. Der Wert einer Nachricht besteht in der Arbeit, die sich der Sender beim Verfassen der Nachricht macht, und die er so dem Empfänger erspart. Diese Arbeit nennt man Exformation. Man kann es nicht besser auf den Punkt bringen.
Exformation ist auch das, was Sketchnotes und Graphic Recording so wertvoll macht. Die Arbeit, die der Sketchnoter in die Strukturierung mit Containern und Pfeilen, die Farbgebung, die Auswahl der Symbole und Schlüsselbegriffe steckt, macht eine gute Sketchnote so einleuchtend: alles was weggelassen wurde, kann der Betrachter leicht ergänzen. So kann man ein ganzes Buch in einer einzigen Skizze auf das Wesentliche reduzieren. Durch das geschickte Weglassen gewinnt man an Wert.
Dass auf diese Weise aus dem Kern einer Nachricht und dem Wissen des Empfängers viel mehr entstehen kann, als in der ursprünglichen Information enthalten war, kann man als Synergie oder eben auch „Emergenz“ bezeichnen: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile! Ein anderer Begriff ist „Kreativität“: Exformation zwingt uns, zu ergänzen, die Lücken des Weggelassenen aufzufüllen. Bei diesem Prozess können die Lücken auch anders gefüllt werden, als eigentlich vorgesehen war. So entstehen Witze, genetische Mutationen oder technische Innovationen – auf jeden Fall immer mehr lebendige Komplexität.
Das Wunderbarste an diesem Vortrag finde ich, dass er auch noch eine überraschend einfache Lösung für den Umgang mit Komplexität bereithält. Aus den zitierten Ergebnissen der Komplexitätsforschung leitet Vera Birkenbihl ab, dass wenige einfachste Regeln und ein klares Ziel zur Lösung auch der komplexesten Probleme (Predikamente) genügen – vorausgesetzt, dass Individuen kooperieren. Und das ist eine Pointe, an die ich zutiefst glaube: keiner von uns kann die komplexen Probleme der Welt alleine bewältigen. Aber wenn wir bereit sind, zu kooperieren, und uns auf ein gemeinsames großes Ziel einigen können, dann geht es plötzlich wie von selbst (vgl. auch „Das Prinzip Menschlichkeit“ von Joachim Bauer).